Stefan Winckler
Historiker und Buchautor

Stefan Winckler
Ein konservativer Gegner Bismarcks: Ernst Ludwig von Gerlach


Otto von Bismarck hatte in seiner Zeit als Reichskanzler auch im konservativen Lager (und nicht nur bei den Ultramontanen) Gegner von hohem intellektuellem Niveau. Einer war Ernst Ludwig von Gerlach, Jurist, Publizist und Politiker. Der Historiker Hans-Christof Kraus hat sich 1994 seiner Biographie und seiner Aussagen in zwei umfangreichen Bänden angenommen. Der gleiche Wissenschaftler vereinte kürzlich drei Texte Gerlachs in einem Buch: „Gottesgnadentum und Freiheit“ (Reihe: Bibliothek der Reaction), Wien, Leipzig: Karolinger, 2011.
Anstelle der drei abgedruckten Texte soll hier nur der erste „Christentum und Königtum von Gottes Gnaden im Verhältnis zu den Fortschritten des Jahrhunderts“ (S. 7-44) erörtert werden. Es fällt im Übrigen auf, dass Gerlach in dieser Ansprache keinen Bezug auf Otto von Bismarck trotz dessen zentraler Stellung in dem gleichzeitig auf seinen Höhepunkt zulaufenden Heeres- und Verfassungskonflikt nimmt, zumal er lange Bismarcks politischer Ziehvater gewesen war.
Konzipiert als Vortrag vor dem Evangelischen Verein  in Berlin, favorisiert Gerlach die Herkunft aller Herrschaft und des Rechts aus der Allmacht Gottes. Dabei begegnet dem Leser eine sehr pauschal erscheinende Zeitkritik, insbesondere am Liberalismus: „Denn weit und breit verleugnet und erschüttert diese Zeit alle Autorität, göttliche und menschliche. Tief hinein dringt freche Impietät in jede Stadt, in jedes Dorf, in unzählige Häuser. Pantheismus: ,die Welt ist Gott‘ – Atheismus: ,es ist kein Gott‘ – erheben keck und öffentlich ihr Haupt“ (S.8).  Getragen von der Philosophie der Aufklärung (die Gerlach nicht direkt erwähnt) wolle der Mensch von sich aus herrschen – was aber nicht möglich sei. Vielmehr sei doch „die Obrigkeit nichts ohne Gott, der sie eingesetzt hat und in ihr waltet“ (S. 9). Der Angriff auf die Verweltlichung des politischen Herrschaftsanspruchs, gegen die Liberalen, mag zu jenem Zeitpunkt nicht überraschen, denn die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses, gestützt auf die öffentliche Meinung im Bürgertum, stand gegen die Politik König Wilhelms und Bismarcks. An diesem Thema konnte ein Jurist wie Gerlach in der geistigen Nachfolge des hochkonservativen Friedrich Julius von Stahl in Berlin gar nicht vorbeikommen. Hier sei der Konservatismus gefordert, ohne freilich in die geistigen Strömungen vormoderner Zeit zurückzufallen: „Ich habe oft bemerkt, daß man unsrerseits das Königtum von Gottes Gnaden nur schwach und unklar zu verteidigen wußte, wenn man überging aus dem bloßen aufgeregten Pietätsgefühl auf das Gebiet ruhiger durchsichtiger Erörterung, und daß man, wenn man es versuchte, oft in den entgegengesetzten Irrtum geriet, nämlich in den Irrtum des Absolutismus, dessen Extrem ich als Verwandlung des Königtums in ein Götzentum bezeichnen muß“ (S. 9). Damit befand er sich im Einklang mit dem 1861 verstorbenen König Friedrich Wilhelm IV., der als christlicher Monarch ganz bewusst zusammen mit den Ständen und eben nicht absolut regieren wollte. Gott, so Gerlach, sei „unser Vater und unser König“, „König aller Völker, König aller Könige“. Die weltlichen Könige seien seine „Abbilder“ (S. 10). Daher liege es nahe, im König als Landesherrscher entsprechend einer ewigen, natürlichen Ordnung etwas Ähnliches zu sehen wie einen Vater, der das Familienoberhaupt ist. Wie in einer Familie sind König und Untertanen durch die Treue zueinander verbunden.
Überraschend kommt Gerlach im Anschluss an diese eher einem Prediger als einem Juristen entsprechende Herleitung der christlichen Monarchie auf die Republiken wie etwa die Vereinigten Staaten und die Niederlande zu sprechen, die ebenso rechtmäßig seien wie die Monarchien, insbesondere, wenn sich ein solcher Staat neu konstituiert oder die herrschende Dynastie erlischt. Auch eine parlamentarische Monarchie verdammt Gerlach nicht in Bausch und Bogen – schließlich kann ein Monarch von schwächlicher Herrschernatur sein und des Parlaments bedürfen. Freilich, die ursprüngliche, natürliche und damit auch stabilste Staatsform sei die Monarchie. Geschickt nennt Gerlach hier die Schwächen bestehender Republiken (amerikanischer Bürgerkrieg!). Selbst auf Revolutionen folgten rasch wieder Monarchien (Frankreich!). Ebenso wie die politische Romantik und mit ihr König Friedrich Wilhelm IV. weiß Gerlach das politische System Englands als organisch gewachsen und gefestigt zu schätzen: „Das heutige England zeigt uns Autorität und Freiheit zur intimsten Einheit verbunden durch seine festen, Recht und Freiheit atmenden Institutionen, die ihre Kraft ziehen aus dem Christentume, welches dieses  Volk, wie wohl kein anderes Volk, durchdringt und Grund und Bestandteil seines Rechts ist – part and parcel of the law – und durch die wunderbare Rechtskontinuität, die seit vielen Jahrhunderten alle seine Zustände beseelt (…). Die englischen Institutionen dagegen sind erwachsen aus dem Schoß der Kirche, monarchisch durch all ihre Gliederungen, uralt und doch frisch und jung, mit einem Worte: nach Geist und Inhalt grundverschieden, ja! Entgegengesetzt den Ideen von 1789. Kein Thron steht heut zu Tage fester als der englische Thron; keiner Krone wird willigerer und treuerer gehorsam geleistet als der Krone auf dem Haupte einer Frau, einer Witwe. (…)“ [Queen Victoria] (S. 23).
Gerlach begnügt sich nicht mit einer trivialen Verurteilung der Revolutionen seit 1789, sondern macht den Absolutismus für ihre durchschlagende Wirkung verantwortlich. Dieser habe die echten „Rechts- und Freiheitselemente“ getilgt, „die allein feste Schutzwehr gegen die Revolutionen sind“. Das Selbstverständnis des Absolutismus sei unglaubwürdig. „Will der Absolutismus seine maß- und schrankenlose Königsgewalt durch Hinweisung auf der Könige Rechenschaft vor Gott rechtfertigen, so reißt er auseinander, was zusammengehört, Wesen und Erscheinung“ (S. 24). Der Absolutismus sei ein recht neues Phänomen mit wenig Tradition, dagegen kennen Kirche und Staat das Recht der Untertanen an, auch gegen ihre Obrigkeiten Recht geltend zu machen.  Ungewollt habe der Absolutismus erst die Revolutionen durch seine Pervertierung des Herrschaftsanspruchs verursacht („eine grundverderbliche Wirkung (…) er hat die Wahrheit weit und breit verdunkelt, deren Karikatur er ist. Die rechten Titel und legitimen Überschriften dieser Wahrheit hat er zu Gegenständen des Hasses und des Abscheus gemacht und als Reaktion dagegen das revolutionäre Wesen hervorgerufen (…)“, S. 26). Die Abneigung der öffentlichen Meinung gegen den Absolutismus habe auch auf das gottgestiftete Königtum übergegriffen.
Hans Christof Kraus‘  Auswahl der Reden Gerlachs zeigt, dass es sich bei den protestantischen, entschieden königstreuen Konservativen Preußens, ja West- und Mitteleuropas nicht um geistlose Finsterlinge handelte, wie es die liberale Geschichtslegende suggeriert. Vielmehr wird die Herleitung des konservativen Ideenkerns leicht sichtbar. Allerdings lassen sich zur politischen Gegenwart im 21. Jahrhundert kaum Bezüge entwickeln.
Gerlach vermochte es in den darauf folgenden Jahren nicht, sich Bismarck anzuschließen. Hier mag neben seinen politischen Einstellungen auch sein höheres Alter (20 Jahre alter als Bismarck) entscheidend gewesen sein. Dieser Gegensatz war spätestens mit dem Deutschen Krieg zutage getreten, als Gerlach die „Hinausdrängung Österreichs“ und die preußischen Annexionen vor allem von Hannover als gegen die fürstliche Legitimität gerichtet verurteilte. Der preußische Kulturkampf veranlasste ihn sogar, sich (als Protestant!) der  Zentrumsfraktion im Reichstag als Hospitant anzuschließen. Ernst Ludwig von Gerlach verstarb 1877, fast 82jährig, an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Vgl. dazu in gewohnter Ausführlichkeit: Gerlach, Ludwig von. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9 (1879), S. 9-14, sowie: Hans Christof Kraus: Nachwort. In: Ludwig von Gerlach: Gottesgnadentum und Freiheit, S. 127-141.
Stefan Winckler
Bismarck und die öffentliche Meinung seiner Zeit
Obwohl Bismarck zu den besterforschten Persönlichkeiten der neueren europäischen Geschichte zählt, wurde die Frage nach Bismarcks Haltung zur Meinung des Volkes kaum gestellt. So findet sich nichts darüber in dem an sich so wertvollen, konservativ gefärbten Sammelband „Revision des Bismarckbildes“ von Herausgeber Hans Hallmann.
Bismarck war kein Nationaler und kein Liberaler. Schließlich war 1871 nicht die Nation souverän, vielmehr waren die Fürsten zusammen als ewiger Bund mit den freien und Hansestädten souverän, und Bismarck war ein Mann des preußischen Staates und der Hohenzollern. Seine Farben waren nicht diejenigen der Nationalbewegung, nicht die der 48er Revolution: eben nicht schwarz-rot-gold. Muss ein solcher Konservativer sich unbedingt nach der Meinung des Volkes erkundigen oder sich gar daran orientieren? Wohl nicht. Oder interessierte sich Bismarck, der gewiefte Taktiker, doch für die öffentliche Meinung, weil er im beginnenden Zeitalter der Massen die Volksmeinung für seine Zwecke auszunutzen gedachte?
Ließ sich Bismarck gar von nationaler Euphorie und liberalem Überschwang mitreißen? Oder gelang es ihm, wichtige Teile des Volkes gezielt zu überzeugen und diese Meinungen für seine Politik zu nutzen?  Hatte er überhaupt Interesse an der öffentlichen Meinung, hat er diesen Begriff wortwörtlich in seinen Schriften aufgeführt? Ich möchte davon ausgehen, dass Bismarck die öffentliche Meinung weder als Vox Dei (Stimme Gottes) noch als Vox Rindvieh ansah. Auf derart einfache Alternativen ließ er sich vermutlich nicht ein. Als Grundherr und Konservativer dürfte er aber niemals der öffentlichen Meinung blind gefolgt sein, zumal er sich als Diener der Hohenzollern-Dynastie und des preußischen, später deutschen Staates sah.
Was ist öffentliche Meinung, warum ist sie hier ein Thema, und was schrieb Bismarck darüber?
Bismarck verwendete immer wieder den Begriff „öffentliche Meinung“. Er schrieb in einem Telegramm am 13. Juli 1870:
„Angesichts der steigenden Entrüstung der öffentlichen Meinung gegen die Anmaßungen Frankreichs, von der mir aus den verschiedensten Theilen Deutschlands die Symptome zugehn, halte ich es für geboten, daß wir eine Aufforderung an Frankreich richten, sich über seine Intentionen gegen Deutschland zu erklären“. Dies ist zugleich ein Musterbeispiel zur Rechtfertigung einer außenpolitischen Maßnahme durch eine nachgewiesene öffentliche Meinung, die er selbst durch die Veröffentlichung der verschärften Emser Depesche erzeugt hatte. Nur einen Tag später heißt es in einem weiteren Telegramm: Zitat „unsre Stellung als Minister würde der öffentlichen Meinung gegenüber nicht haltbar bleiben, wenn der König [Wilhelm I.] [den französischen Botschafter] Benedetti in Ems nochmals empfängt“.[1]
Oder auch in einer Denkschrift vom 30. August 1871:
„Wir können mit Sicherheit damit rechnen, daß bei dem jetzigen Stande der öffentlichen Meinung in Frankreich jede Konzession (…) nur einer politischen Besorgnis (…) zugeschrieben werden wird (…)“.[2]
Als der Abschluss des Zweibundes mit Österreich-Ungarn 1879 bevorstand, schrieb Bismarck: „Es ist für eine große Regierung kaum möglich, die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll einzusetzen, wenn die Überzeugung des Volkes es mißbilligt“. So groß erschien ihm die Macht der öffentlichen Meinung. Aber wenn sie auch mächtig sei, müsse sie doch in bestimmten Fällen überwunden werden. Bismarck  über den Zweibund:
„Mir erschienen die Gründe, die in der politischen Situation uns auf ein österreichisches Bündnis hinwiesen, so zwingender Natur, daß ich nach einem solchen auch gegen den Widerstand unserer öffentlichen Meinung gestrebt haben würde“. [3]
Umgekehrt mobilisierte er mindestens einmal die öffentliche Meinung, um den König zu beeinflussen. 1879 lehnte Wilhelm I. den Zweibund ab. Daraufhin organisierte Bismarck eine Flut von Briefen an den König. Deren Inhalt: Das Bündnis mit Österreich-Ungarn möge zustande kommen.  Tatsächlich konnte sich der Reichskanzler durchsetzen.
Für Bismarck kam eine Absolutierung der öffentlichen Meinung nicht in Frage. So erklärte er am 12. Juni 1882 im Reichstag:
„Die Popularität einer Sache macht mich viel eher zweifelhaft und nötigt mich, mein Gewissen noch einmal zu fragen: Ist sie auch wirklich vernünftig?“
Mit diesem Hinterfragen und Widerstehen der öffentlichen Meinung haben wir ein wichtiges Beispiel für Persönlichkeitsstärke, und zugleich eine Antwort auf die Frage: „Was können die heutigen Politiker, was können wir von Bismarck lernen?“
Auch auf ausländische Zeitungen, etwa die britische und die ungarische Presse, versuchte Bismarck einzuwirken. Doch dies ist ein zu eigenständiges Thema, ja ein weites Feld, um an dieser Stelle dargestellt zu werden.
Bekannt ist die Popularität Bismarcks bei den Deutschen in seiner Zeit als Reichskanzler und danach. Doch was zuvor war, ist schwieriger zu konstruieren. Es gibt geschichtswissenschaftliche Arbeiten, die den Begriff „öffentliche Meinung“ im Titel aufführen, doch sind sie alt oder auf bestimmte Regionen und Ereignisse bezogen. In der vielversprechend betitelten Dissertation „Das erste Jahr des Ministeriums Bismarck und die öffentliche Meinung“ von 1908 untersucht der Autor Otto Nirrnheim fast ausschließlich die veröffentlichte Meinung, also die Aussagen der politischen Zeitungen von großdeutsch-katholisch über konservativ-preußisch bis hin zu den liberalen Blättern. Heutige Forschungen würden sich davon deutlich unterscheiden.
Öffentliche Meinung beschreibt meiner Ansicht nach die wesentlichen Übereinstimmungen der Menschen an Werten, Einstellungen und Meinungen. Es ist das, was die Menschen aussprechen, das was nicht nur eine Zeitung schreibt, sondern das, was der Medientenor ist, der sich in den Köpfen der Leser festgesetzt hat,  im Zweifelsfall hartnäckig verteidigt wird und durch Gespräche untereinander zusätzlich publik und gefestigt ist. Wer eine andere Einstellung oder Meinung hat, schweigt nicht selten, er zieht sich zurück, weil er sich nicht isolieren will. Das ermutigt wiederum die wirklich oder vermeintlich stärkere Gruppe, sich selbstbewusst zu Wort zu melden. Beispielsweise im Wahlkampf 1972: das Lager der CDU/CSU war ungefähr so stark wie das sozialliberale, eher linke Lager. Zu hören waren aber weit mehr die Fürsprecher Willy Brandts und nicht die Anhänger von Rainer Barzel. Diesen Begriff der Isolationsfurcht der einen und des Auftrumpfens der anderen Seite nennt Noelle-Neumann „Schweigespirale“.
Was Bismarck angeht, so fragt man sich unwillkürlich, inwieweit seinerzeit eine öffentliche politische Meinung nachweisbar war.  In der Tat gab es nicht wenige politisch interessierte Bürger, es gab politische Vereine und Parteien, und selbstverständlich politische Zeitungen. Zweifellos gab es Unterschiede zwischen der Landbevölkerung und der Stadt, zwischen arm und reich, zwischen Nord und Süd. Anhaltspunkte für die öffentliche Meinung gibt es in Hülle und Fülle. Ein Indiz sind die Wahlen, v.a. die Reichstagswahlen. So stieg die Wahlbeteiligung von 51 Prozent 1871 auf über 70 Prozent im Jahre 1890. Schon 1874 schrieb die Zeitschrift „Gartenlaube“:  die Bildungsbürger geben sich mit Berichten über die Ergebnisse von Reichstagssitzungen nicht mehr zufrieden, sondern wollten genau wissen, wie ihr Abgeordneter abgestimmt hat.
Tatsächlich weitete sich die Parlamentsberichterstattung der Zeitungen aus. Das politische Interesse lässt sich ferner daran ablesen, wie stark die Zuschauertribünen des Reichstags anlässlich der parlamentarischen Debatten besetzt waren. Vor allem, wenn Bismarck als Redner zu erwarten war, reichten die Plätze häufig nicht aus – und es entstand eine Art Schwarzmarkt, auf dem Preise von 50, 100 oder sogar 500 Mark für Einlasskarten bezahlt wurden. [4]
Das „Zeitalter der Massen“ (Gustave Le Bon) war also bereits in Ansätzen angebrochen. Bismarck hatte ein Interesse, die öffentliche Meinung zu erfahren. Gerade deswegen lehnte er das Dreiklassenwahlrecht ab: völlig ungleich und nicht geheim, wie es war, konnte es den Willen der Preußen gar nicht anzeigen. Aus gutem Grund favorisierte er ein allgemeines, gleiches Wahlrecht der Männer über 25 Jahren, das anzeigte, wie das Volk dachte (und das er 1867 im Norddeutschen Bund und vier Jahre später im Reich durchsetzte). Er fühlte sich auch mehr mit dem preußischen Volk als solchem verbunden als mit den durch seine Vermögen begünstigten Besitzbürgern, die den Liberalismus favorisierten.
Die öffentliche Meinung zu Beginn der Ministerpräsidentschaft
Bismarck zögerte nicht, im Heereskonflikt nach 1862 gegen die öffentliche Meinung in Preußen zu regieren. Er nahm einen heftigen, langwierigen Konflikt mit dem Landtag und den allermeisten Zeitungen in Kauf. Dabei konnte er sich nur auf den König stützen, dem er sich als adeliger Konservativer verpflichtet fühlte, und nicht auf die Öffentlichkeit. Aufgrund der Preßordonannz 1863 konnten Zeitungen alleine schon wegen ihrer sogenannten „Gesamttendenz“ verboten werden. Die Auflage der liberalen Presse übertraf seinerzeit diejenige der Konservativen um das Fünffache.[5] In dieser Anfangszeit als  preußischer Ministerpräsident stieß Bismarck auf Ablehnung: „Die überwiegende Mehrzahl des Volkes verharrt in schärfster Opposition gegen ihn“, so zitiert ihn der Historiker Ernst Engelberg.[6] Bismarck ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Er verfolgte, seinem konstruktiven Denken entsprechend, eine andere Strategie, um die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen: nämlich die Annäherung an Ferdinand Lassalle[7], dessen Haltung gegen das Besitzbürgertum außer Frage stand.
Stefan Winckler
Die öffentliche Meinung zu Bismarck im dänischen und im deutschen Krieg
Für die nachfolgenden Jahre liegt eine Regionalstudie als Dissertation vor, die eine Frau (eine Seltenheit in der Monarchie!) 1915 vorgelegt hatte: „Die öffentliche Meinung in Hamburg in ihrer Haltung zu Bismarck 1864-66“. Zunächst war die Stimmung in der Freien und Hansestadt anti-preußisch, vor allem gegen Bismarck wegen dessen autoritärer Haltung im Verfassungskonflikt, und weil Preußen im schwelenden Streit um Holstein passiv blieb (der Einsatz für den Augustenburger gegen Dänemark war ein Herzensanliegen der Hamburger). Nicht mit Kriegsbeginn, sondern erst mit der Erstürmung der Düppeler Schanzen wendete sich das Blatt nur teilweise: „Was mit Preußen versöhnte, waren seine militärischen Erfolge, nicht seine Politik“. Wilhelm I. wurde jubelnd empfangen, nicht aber Bismarck, der Symbolfigur des „Junkerstaates“.[8] Derweil wuchs die nationale Stimmung. Mit Abschluss des Friedens wurde Bismarck geachtet, aber noch nicht geliebt (wegen des politischen Gegensatzes des liberalen Hamburgs zum konservativen Preußen). „Kein Wort mehr von Frivolität, Puerilität, Intrige, Gewissenlosigkeit in der Presse. Von ihr rückschließend auf die öffentliche Meinung dürfen wir annehmen, daß das Publikum nicht mehr verlangte, Vorwürfe gegen Bismarck zu hören“.[9]   Das politische Interesse der Menschen wuchs, der Krieg, an dessen Ausbruch noch Anfang Juni 1866 kaum jemand glaubte, war  unpopulärer als anderswo in den deutschen Landen.  Friedensliebe, Angst vor einer Hegemonie oder gar Einverleibung durch Preußen und Sympathie für Österreich mögen die Ursache dafür gewesen sein. Und doch gab es keine Proteste gegen den militärischen Anschluss der Hansestadt an Preußen:
„Mit vollkommener Ruhe und teilweiser Billigung nahm Hamburg sein neues, ihm selbst noch so ungewisses Schicksal hin. [Die Öffentlichkeit] glaubte, daß die Selbständigkeit gewahrt bliebe, und so war man politisch gebildet genug, um [das Bündnis mit] Preußen als einen Akt der Notwendigkeit und Klugheit zugleich zu erkennen“.[10]
Und so war eine recht große Preußenfreundlichkeit gegeben, gerade auch wegen der fortschrittlicheren Politik Preußens. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ließ in diesem Sinne verlauten:
„Da die nationale Einheit und ein deutsches Parlament auf Grundlage gleicher, direkter und unbeschränkter Wahlen nur durch Preußen zu erreichen ist, so gebietet augenblicklich die Pflicht, Preußen mit allen Mitteln zu unterstützen“.[11]
Unmittelbar nach dem deutschen Krieg von 1866 begann der Kult um Bismarck, jedoch nicht unbedingt überall. In der ehemals selbständigen Stadt Frankfurt am Main fand der Anschluss an Preußen so gut wie keinen Beifall. Wir wissen auch von dem Widerwillen in den bislang welfischen Gebieten, sich nach Preußen einzugliedern. Und 1871 wollten die Elsässer, gleichwohl dem deutschen Kulturkreis verbunden, nicht im Deutschen Reich aufgehen, was den deutschen Eliten bekannt war.
Die öffentliche Meinung zur Annexion des Elsass
Bleiben wir beim Thema Elsass und betrachten dazu die Stimmung des deutschen Volkes:
Forderte die öffentliche Meinung 1870/71 die Annexion Elsass-Lothringens? Wenn ja, folgte Bismarck möglicherweise widerwillig einem Volkswillen? Oder folgte er aus militärisch-sachlichen Gründen der Generalität? Sah er den Zugewinn Elsass-Lothringens als notwendig und wünschenswert an? Der Historiker Walter Lipgens[12]  antwortet auf diese häufig erörterte Frage, dass es zwar der Wille der öffentlichen Meinung seit September 1870 war, Elsass-Lothringen in Besitz zu nehmen. In den Jahren zuvor waren aus den deutschen Landen kaum Stimmen zu vernehmen, wonach wenigstens das Elsass zurückzugewinnen sei. Offenbar hatte Bismarck diese Überlegungen „wenige Tage nach Kriegsausbruch“ gefasst, und zwar im Juli 1870, und nachweislich im August 1870 unter anderem gegenüber Kronprinz Albert von Sachsen ausgesprochen.[13]
Am 7. September 1870 hatte der bayerische Militärbevollmächtigte im Hauptquartier vernommen, dass Bismarck seine Friedensbedingungen längst ausgearbeitet habe, nämlich die Annexion des Elsass und eines Teils von Lothringen.[14] Wenn Frankreich schon unterliege, müsse es das Elsass an Deutschland abgeben, nicht wegen der Bevölkerung, sondern weil aus geographischen Gründen kaum etwas anderes angeschlossen werden könne. Er wies Mitte September alle Botschafter und Gesandten des Norddeutschen Bundes an, die Annexion als „unabdingbar beschlossene Friedensbedingung den anderen Staaten offiziell mitzuteilen. [15] Zwar kamen im August/September 1870 nationalliberal gefärbte Forderungen in Zeitungen und Flugblättern nach der Annexion des Elsass auf (die wohl auf Presseanweisungen Bismarcks zurückgehen, und daher nicht aus der Mitte des Volkes kamen), doch können diese nicht als öffentliche Meinung deklariert werden, weil es zahlreiche Stimmen dagegen gab, etwa von der Frankfurter Zeitung, der Berliner Volkszeitung, den Landeszeitungen aus dem Rheinland und Baden usw.
Im Gegensatz zu Bismarcks Vorstellungen entwickelte sich die öffentliche Meinung erst im September in Richtung der Annexion.
Spätere Jahre
Nach 1871, in Personalunion als Reichskanzler und Preußischer Ministerpräsident,  konnte sich Bismarck noch stärker in der Verehrung durch die öffentliche Meinung sonnen, abgesehen freilich vom Milieu der sog. Reichsfeinde, die er bekämpfte. Während die Sozialdemokratie ihn auch nach 1890 entschieden ablehnte, fand er mit seinem Tod beim Zentrum ein angemesenes Gedenken. Die Anerkennung durch das Zentrum ist sicher Papst Leo XIII. zu verdanken, der Bismarck als einzigem Protestanten 1887 den Christusorden des Vatikans verlieh!
Überhaupt war Bismarck nach seinem Abschied eine kultisch verehrte Persönlichkeit: was nicht selbstverständlich ist, denn die Öffentlichkeit vergisst große Leistungen mitunter schnell. Ja, mehr noch: die Verehrung wuchs, gerade auch angesichts der Schwächen seiner Nachfolger. Dies ist auf Bismarcks Leistungen zurückzuführen, ganz klar, aber war auch Ausdruck einer kritisch-ablehnenden  Haltung gegenüber Wilhelm II.  Bismarck erhielt unzählige Briefe seiner Anhänger – doch welche Gruppen und Schichten waren das? Überproportional waren es protestantische Bürger. Genauer: Offiziere, Handwerker, Lehrer, Professoren, Studenten, Schulkinder. Und jetzt zur geographischen Herkunft: „Die Mehrheit der Telegramme und Briefe kam nicht (…) aus Preußen, sondern aus Süddeutschland, insbesondere aus Württemberg-Hohenzollern und dem evangelischen Teil Frankens.[16] Dementsprechend könnten auch protestantische Rheinländer vertreten sein: solche, die eine besonders stark ausgeprägte preußische Identität aufwiesen.
Die 300 Bismarck-Gesellschaften Deutschlands umfassten ungefähr 300 000 Mitglieder insgesamt, die zumeist dem gehobenen Mittelstand zuzurechnen waren.[17]
Bismarck in seiner persönlichen Zurückhaltung behagte die Begeisterung wenig: „Wenn ich von allen Seiten gelobt werde, dann beginne ich darüber nachzudenken, wo ich einen Fehler gemacht habe“.
Auch hier spürt der Leser die Distanz, ja das Misstrauen zur öffentlichen Meinung.
Wer denkt, in der Weimarer Republik habe allein die politische Rechte, zumal in Preußen, die Bismarck-Verehrung gepflegt, greift zu kurz. Der englische Historiker Robert Gerwarth stellt vielmehr eine erhebliche Bedeutung Bismarcks auch mehr als 20 Jahre nach seinem Tod in der öffentlichen Meinung fest:
„Es war zwischen 1918 und 1933 unmöglich, eine deutsche Schule zu besuchen, eine Zeitung zu lesen oder Anteil am politischen Leben Deutschlands zu nehmen, ohne irgendwann mit dem Bismarck-Mythos konfrontiert zu werden“.[18] In diesem Meinungsklima war es sicher nur in den randständigen Milieus der radikalen Linken möglich, Bismarck voll und ganz in öffentlichen Äußerungen abzulehnen.
Schlussbemerkung
Bismarck hätte wohl nicht den Satz des schottischen Philosophen David Hume unterschrieben: „Jede Regierung beruht auf Meinung“.
Keinesfalls hätte er dem Satz des Theologen Petrus von Blois aus dem 12. Jahrhundert zugestimmt: „Es steht geschrieben, die Meinung des Volkes ist die Meinung Gottes“.
Ich bin mir sicher, sinngemäß hätte er gesagt: „Jede Regierung Preußens und des Reiches beruht auf der Treue zur Dynastie und zum Monarchen, unterstützt von der öffentlichen Meinung, um die zu werben und die zu nutzen ist“.
Bismarck regierte gegen die öffentliche Meinung, wenn er es für notwendig hielt, und wenn er sich der Rückendeckung durch seinen König gewiss sein konnte. Dies war aber – auf ganz Preußen bezogen – nur 1862/63 während des Heeres- und Verfassungskonfliktes der Fall. Anschließend nutzte Bismarck immer wieder die Volksmeinung in seinem Sinne. Ab dem deutschen Krieg 1866 regierte Bismarck in weitgehendem Einklang mit der öffentlichen Meinung in Preußen, nicht weil er ihr nachgelaufen wäre, sondern weil er sie überzeugt hatte, sie weiterhin überzeugte und sie ihm treu blieb.
Und heute? In der Bundesrepublik Deutschland gab es selbstverständlich Staatsmänner, die sich durch eine ungünstige öffentliche Meinung nicht von ihren Zielen abbringen ließen. Das war der wertkonservative Konrad Adenauer in mehreren Phasen seiner Kanzlerschaft, und auch Ludwig Erhard in den Jahren 1950 bis ungefähr 1952. Sie waren zeitweise unbeliebt, sie fanden anfangs keine Mehrheiten mit ihren Konzepten. Sie hatten allerdings feste Prinzipien, die sich auf Dauer als erfolgreich erwiesen, und ließen sich von Großdemonstrationen und gegnerischen Medien nicht beeindrucken. Genau wie Franz Josef Strauß.
Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans Dietrich Genscher setzten trotz Massendemonstrationen und einer feindlichen Stimmung den NATO-Doppelbeschluss um, zusammen mit den prinzipienstarken Abgeordneten ihrer Fraktionen. Gerhard Schröder und Wolfgang Clement kümmerten sich nicht um die Meinung ihrer Partei in Sachen Wirtschaft und Soziales, auch wenn sie mit dem Verlust ihrer Mehrheit rechnen mussten.
[1] Bismarck in: Werke in Auswahl, Bd.4. Die Reichsgründung. Zweiter Teil: 1866-1871. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968, S.479.
[2] Bismarck in: Werke in Auswahl, Bd. 5: Reichsgestaltung und europäische Friedenswahrung. Erster Teil: 1871-1876. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S. 102.
[3] Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichskanzler, S. 230.
[4] Ebd., S. 38.
[5] Ernst Engelberg: Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer. Berlin 1985, S. 534f.
[6] Otto Nirrnheim: Das erste Jahr des Ministeriums Bismarck und die öffentliche Meinung (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte). Heidelberg 1908, S. 619.
[7] Ebd., S. 538.
[8] Olga Herschel: Die öffentliche Meinung in Hamburg in ihrer Haltung zu Bismarck 1864.1866. Hamburg C. Boysen, 1916, S. 34.
[9] Ebd., S. 42.
[10] Ebd., S. 74.
[11] Ebd., S. 78.
[12] Bismarck, die öffentliche Meinung und die Annexion von Elsass und Lothringen 1870, in: Historische Zeitschrift Bd. 199 (1964), S. 31-112.
[13] Ebd., S. 54, S. 70.
[14] Ebd., S. 65.
[15] Ebd., S. 34.
[16] Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Berlin: Siedler, 2007, S. 25.
[17] Ebd., S. 35.
[18] Ebd., S. 19.


Stefan Winckler
Tondokument mit Bismarcks Stimme aufgetaucht!


Am 7. Oktober 1889 besuchte Adelbert Theodor Wangemann, ein deutsch-amerikanischer Mitarbeiter Thomas A. Edisons, den Reichskanzler in Friedrichsruh und nahm einige seiner Worte auf einer Tonwalze aus Wachs auf. Es handelt sich nicht um eine Ansprache, sondern eher um einen Test, ob eine solche Aufzeichnung überhaupt möglich ist. Otto von Bismarck sprach seinem amerikanischen Besucher die erste Zeile des US-Volkslieds "In Good Old Colony Times" vor, gefolgt von den Anfängen von "Als Kaiser Rotbart lobesam", der Marseillaise und "Gaudeamus igitur". Die Aufnahme von einer Minute und 21 Sekunden schloss mit einer Mahnung zur maßvollen Lebensweise, offenbar für seinen Sohn Herbert gedacht.
Dies meldete die New York Times am 30. Januar 2012 und löste damit auch in Deutschland ein Medienecho (FAZ, DeutschlandRadio) aus.
Zwar waren die Rollen schon 1957 gefunden worden, blieben aber unbeachtet. Ihr Inhalt konnte dank neuester Technik erst jetzt nutzbar gemacht werden. Der Tonhistoriker Stephan Puille (Berlin) identifizierte die Aufzeichnung zusammen mit einem amerikanischen Kollegen und sprach vom grössten Fund seiner Laufbahn.
Spätestens jetzt ist auch belegt, dass Bismarck nicht über eine Fistelstimme verfügte, wie seit seinen Lebzeiten immer wieder behauptet wurde.
die historische Aufnahme:
https://www.youtube.com/watch?v=czko31-6O8I
weiterführende Informationen:
http://www.deutschlandradio.de/die-stimme-bismarcks.331.de.html?dram:article_id=204848
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/sensationeller-fund-in-amerika-bismarcks-stimme-11632852.html
Stefan Winckler
Otto von Bismarck in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik Deutschland
Die Bismarck-Verehrung während des Kaiserreichs ist oft anhand von Glückwunschtelegrammen und Denkmalsbauten nachgezeichnet worden. Für die Weimarer Republik und die Hitler-Jahre liegen keine Umfragedaten vor, denn die Demoskopie war kaum entwickelt. Ganz anders steht es um die Meinungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland.
Im Januar 1950 bezeichneten 35 Prozent der Deutschen in der Bundesrepublik Otto von Bismarck als den Deutschen, der „am meisten für Deutschland geleistet“ habe. Dieser Wert blieb im August 1952 ungefähr gleich (36 Prozent), bevor er im November 1953 (32 Prozent) und im Januar 1955 (30 Prozent) leicht zurückging. In jenen Jahren sank das Ansehen Friedrichs des Großen von sieben auf vier Prozent ab, während die Popularität des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer sprunghaft anstieg: 1952: drei Prozent, 1953: neun Prozent, 1955: 17 Prozent (vgl. Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Allensbach 1956, S. 132). Hier ließ offenbar der erfolgreiche Wiederaufbau Persönlichkeiten der Gegenwart zuungunsten historischer Staatsmänner in den Vordergrund rücken.
Nur wenig veränderte sich die Zustimmung zu Bismarck im folgenden Jahr: 32 Prozent im September 1955, 27 Prozent im Februar 1956 (hier erzielte Adenauer einen weiteren Popularitätsgewinn auf Kosten Bismarcks, Friedrichs d.Gr., sowie anderer Monarchen und Soldaten, was mit dem Erfolg der Moskau-Reise des Bundeskanzlers erklärt werden kann). Dagegen war im Oktober 1956 Bismarcks Ansehen höher (31 Prozent), diesmal zu Lasten Adenauers (vgl. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, S. 141). Doch dies war eine Ausnahme: die längerfristige Tendenz zuungunsten des Reichskanzlers bestätigte sich Oktober 1958 und Juli 1962, als nur noch 23 Prozent der Befragten in Otto von Bismarck den Mann sahen, der am meisten für Deutschland geleistet habe. Dementsprechend waren die Einschätzungen 1963 (21 Prozent), 1964 (18 Prozent) und 1966 (13 Prozent), wobei sich die Entwicklung beschleunigte. Im Dezember 1966 entschieden sich 16 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen für Bismarck. Die geringere Wertschätzung Bismarcks bei Frauen kann mit ihrem weniger ausgeprägten Interesse an Geschichte, Zeitgeschichte und Politik erklärt werden. Je älter die Befragten, desto höher stand Bismarck in ihrer Gunst: zehn Prozent in der Altersgruppe 16- bis 29 Jahre, zwölf Prozent bei den 30- bis 44-jährigen, 14 Prozent bei den 45-bis 59-jährigen und 16 Prozent in der Altersgruppe 60 plus. Nach Parteiorientierung aufgesplittet,  war Bismarck bei den Anhängern der damals noch nationalliberalen FDP mit 17 Prozent vergleichsweise hoch angesehen, gefolgt von SPD-Anhängern (14 Prozent) und nur zehn Prozent CDU-Wählern.
Zwar sahen die Westdeutschen Bismarck 1967 in einem günstigeren Licht (17 Prozent), während v.a. der zurückgetretene Bundeskanzler Ludwig Erhard an Ansehen einbüßte. 1969 sprachen sich 13 Prozent für Bismarck aus, Juni 1971 waren es – man lese und staune! – 27 Prozent Männer, 16 Prozent Frauen beziehungsweise 22 Prozent (!) in der Altersgruppe 16 bis 29 Jahre, 20 Prozent in der Altersgruppe 30 bis 44 Jahre, 18 Prozent der 45- bis 59-jährigen sowie 25 Prozent der mindestens 60-jährigen. Spaltet man die Daten nach dem Schulabschluss auf, so entschieden sich 18 Prozent der Befragten mit Volksschulabschluss, 31 Prozent der Personen mit Mittlerer Reife und 39 Prozent der Befragten mit Abitur für den Reichsgründer. Demgegenüber war Willy Brandt (erstmals genannt) mit drei Prozent weit abgeschlagen. Bemerkenswert: 23 Prozent der SPD-Wähler favorisierten Bismarck (wohl wegen der Sozialversicherungsgesetzgebung), und 21 Prozent der CDU-Wähler (Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-73, S. 201). Dieser geringere Wert bei den CDU/CSU-Anhängern kann vielleicht damit erklärt werden, dass Bismarck in den Unions-Hochburgen in Süddeutschland von jeher weniger Sympathie genoss, oder mit der stärker westeuropäischen Orientierung der Unionsparteien.
1975 zeigte sich, dass der 1971er Wert für Bismarck ein Zwischenhoch war, also eine Ausnahme darstellte, die vermutlich durch die Thematisierung der Kaiserproklamation hervorgerufen war. Mitte der 1970er Jahre sahen 14 Prozent der befragten Deutschen in Bismarck den Mann, der „am meisten für Deutschland geleistet habe“. 1982 sprachen sich zwölf Prozent für Otto von Bismarck aus, 1992 waren es acht Prozent, im Jahr 2000 sieben im gesamten Deutschland. Zur Jahrtausendwende stand Bismarck in diesem Sinne an vierter Stelle hinter Adenauer (der gleichwohl viel an Zustimmung verloren hatte), Helmut Kohl (der nach seinem Amtsverlust ähnlich wie Erhard viel an Sympathie verloren hatte), und dem verstorbenen Brandt. Schlechter als Bismarck schnitten 1992 ebenso wie 2000 Ludwig Erhard, Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß ab (Allensbacher Jahrbuch 1998-2002, S. 546).
Taugt Bismarck als Vorbild? Im Januar 1974 waren 15 Prozent dieser Ansicht, genauer: 17 Prozent der Männer, 14 Prozent der Frauen. Stark auffallend sind hier wiederum die Alterskohorten: nur acht Prozent der jungen Leute (16- bis 29 Jahre), zwölf Prozent der 30- bis 44-jährigen, 15 Prozent der 45- bis 59-jährigen, aber 27 Prozent der Befragten aus der älteren Generation waren der Ansicht, Otto von Bismarck könne Vorbild sein (bis zu drei Personen konnten genannt werden). Insgesamt war Bismarck ähnlich eingestuft wie Willy Brandt, Kurt Schumacher, Alexander Solschenizyn und Henry Kissinger, er stand vor Karl Marx und anderen Kommunisten (Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1974-76, S. 59).
Eine Fragestellung vom Dezember 2000 lautete: „Was hat die deutsche Geschichte bis 1945 geprägt, was prägt sie bis heute?“. 42 Prozent der Befragten gaben an: „die Reichsgründung, die nationale Zusammengehörigkeit unter Bismarck“ (Mehrfachantworten waren möglich). Dabei war in den östlichen Bundesländern ein leichter Überhang von 44 Prozent gegenüber 41 Prozent im Westen vorhanden. Auch hier wieder: 40 Prozent der unter 30-jährigen gegenüber 46 Prozent der Senioren vertraten diese Sichtweise (Jahrbuch der Demoskopie 1998-2002, S. 544).
Der Rückgang an Zustimmung zu Bismarck liegt m.E in einem unzureichenden Geschichtsunterricht, der die guten Leistungen der deutschen  Geschichte vernachlässigt. Dies liegt an den Lehrplänen und Schulbüchern, aber auch an Lehrern, die an Persönlichkeiten der Geschichte kein Interesse haben.
Dies ist mit dem Generationenwechsel in den Geschichtswissenschaften verknüpft: Die Fritz-Fischer-Schule, die das Reich insgesamt in einem ungünstigen Licht sah, trat an die Stelle konservativer Historiker wie Gerhard Ritter und Hans Rothfels. So äußerte der Historiker Imanuel Geiss: „Wir Jüngeren, die von Helden und Heldenverehrung nicht mehr wissen mögen, haben ein Recht darauf, Bismarcks historische Gestalt kritisch und skeptisch ins Auge zu fassen, unterkühlt und ohne Überschwang. Wird doch in diesen Tagen genügend Weihrauch zu seinen Ehren verbrannt werden, wird so mancher Patriot in der Öffentlichkeit oder im stillen Kämmerlein wehmütige Tränen vaterländischer Trauer über den Abstand des ehernen Recken zu seinen schwächlichen Erben vergießen“. Der Bismarckkult der Älteren erweise sich „als das mächtigste Hindernis für eine realistische ,Weltanschauung‘, als einer der wichtigsten Faktoren für die Katastrophe der beiden Weltkriege“ („Vorwärts“, 31.3.1965, zitiert in Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Berlin: Siedler, S. 185).
Aus all diesen Gründen sind die Kenntnisse über Geschichte oft erschreckend schwach ausgeprägt. Nach einer repräsentativen Umfrage, die 1998 wenige Monate vor Bismarcks hundertstem Todestag veröffentlicht wurde, wussten 53 Prozent der Deutschen nicht einmal, wer Bismarck war („Die Woche“, 30.1.1998, S.11, wiedergegeben in: Gerwarth, S. 171).


Stefan Winckler
Bismarck – eine Unperson? (Leserbrief)


Es ist wenig hilfreich, sich eine Meinung über Bismarck ausschließlich anhand gegenwärtiger Maßstäbe zu bilden. Dagegen fällt es leicht, Bismarck und das damalige Deutschland mit den führenden Mächten seiner Zeit zu vergleichen.
Zur Innenpolitik: Bismarcks Deutschland war zwar keine Demokratie, vielmehr ein Obrigkeitsstaat. Es verfügte aber über eine Reichsverfassung, einzelne Bundesstaaten hatten seit Jahrzehnten schon ihre Landesverfassungen. Demgegenüber kannte Großbritannien zwar Gesetze mit Verfassungsrang, aber keine geschriebene Verfassung. Im Bismarck-Deutschland galt ein allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer über 25 Jahren (wie in der Republik Frankreich) -  im Gegensatz zu Großbritannien, wo seinerzeit nur Hausbesitzer wählen durften. Bismarcks Sozialversicherungspolitik kam Jahrzehnte vor einer Sozialpolitik in Großbritannien, Frankreich und Amerika in Gang. Zwar lag die Macht in den Händen der bisherigen Eliten – das Reich war ein Fürstenbund, ergänzt um die Hansestädte. Dem allergrössten Teil der Deutschen war dies recht – auch wenn es sich nicht um eine parlamentarische, sondern eine konstitutionelle Monarchie handelte. Diese Bürger können nicht unter „Nationalisten und Militaristen“ subsummiert werden. Vielmehr war bei den Deutschen die schändliche Einstellung des Antisemitismus bei weitem schwächer ausgeprägt als etwa in Frankreich. Nach dem Börsenkrach von 1873 kam es v.a. in den 1880er Jahren zu einem beispiellosen Wirtschaftsaufschwung. Dazu mag gerade die Vereinigung der deutschen Länder zum Reich beigetragen haben, denn nun konnten Maße, Gewichte, ja das ganze bürgerliche Recht vereinheitlicht werden.
Negativ erscheinen heute Bismarcks Kulturkampf und die Sozialistengesetze. Wir müssen allerdings bedenken, dass der Vatikan jeden modernen Gedanken heftig bekämpfte und daher ein natürlicher Gegensatz zu einem vergleichsweise modernen Staat wie dem Deutschen Kaiserreich gegeben war. Der Kulturkampf brachte eine erhebliche Einschränkung des Katholizismus, gerade auch hinsichtlich der Seelsorge und ist daher zu verurteilen. Bismarck war allerdings fähig, diesen Fehler einzusehen. Papst Leo XIII. wusste dies zu schätzen und zeichnete Bismarck als einzigen Protestanten mit dem Christusorden aus. Den Sozialistengesetzen ging die Solidaritätserklärung des ansonsten so pragmatisch-besonnenen August Bebels mit den Kommunekämpfern in Frankreich und die marxistische Ideologie der Sozialisten voraus. Hatte nicht August Bebel aus seiner großdeutschen Einstellung heraus das Kaiserreich vehement abgelehnt? Dennoch war die Bekämpfung der Sozialisten aus demokratietheoretischen und praktischen Erwägungen ein Fehler. Ihre Erfolglosigkeit ist leicht zu erkennen.
Zu den Werten und Einstellungen Bismarcks sei vermerkt, dass er kein Nationalist war. Wäre ihm die Nation über alles gegangen, hätte er keine kleindeutsche Lösung der seinerzeitigen Deutschen frage verfochten, und am wenigsten hätte er einen Krieg mit Österreich und den süddeutschen Staaten verantwortet. Bismarck war schlicht und einfach ein Diener der Hohenzollern, der preußischen Dynastie.
Zur Außenpolitik: Großbritannien und Frankreich führten Kolonialkriege, Bismarck stand dem Kolonialismus skeptisch gegenüber. Welch ein Gegensatz zur mörderischen Ausbeutung des Kongo durch  Belgiens König Leopold II! Und selbst der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 begann mit einer französischen Kriegserklärung, wesentlich verantwortet von dem Liberalen Emile Olivier. Von 1871 bis 1890 war das Reich an keinem Krieg beteiligt, vielmehr galt Bismarck als der „ehrliche Makler“ der europäischen Mächte. Leider waren seine Nachfolger unfähig, diese Gleichgewichtspolitik weiterzuführen.
Abschließend noch drei Zitate.
Der Manchester Guardian, traditionell eher linksliberal, schrieb drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anlässlich von Bismarcks 50. Todestag:
„Bei seiner Geburt war Preußen die geringste unter den Großmächten, bei seinem Tod überschattete Deutschland bereits Europa. Das war sein Werk. Bismarcks Ruhmestat war es, diese Größe in Grenzen zu halten. Seiner Herkunft und Überzeugung nach ein Konservativer, hasste er die ,Sintflut‘ genauso wie Metternich. Aber ihre Methoden waren verschieden. Metternich widersetzte sich der Revolution und stürzte; Bismarck aber führte die deutsche Revolution und meisterte sie. Weder wiederholte er den Versuch Napoleons, noch nahm er Hitler vorweg. Nach 1871 war Bismarck der höchste Exponent des Gleichgewichts der Mächte. Indem er für Deutschland Sicherheit suchte, gab er sie jedem Staat in Europa. Nicht nur auf dem Berliner Kongress, sondern 19 Jahre lang war Bismarck ein ehrlicher Friedensmakler und sein Bündnissystem zwang jede Macht, seinem Friedenskurs zu folgen. Bismarcks Fehlschlag war der Fehlschlag des Konservatismus in einem Zeitalter des Umsturzes. Deutschland war auf dem Marsch zur Weltmacht und Bismarck konnte seinen Vormarsch nur verzögern. Aber auch kein anderer Mann würde auch nur diesen begrenzten Einfluss erzielt haben. Die Welt dankt Bismarcks Politik, was im Deutschland der letzten 50 Jahre gut war. Nach den Worten Goethes: In der Begrenzung zeigt sich erst der Meister, liegt Bismarcks Größe in der Beschränkung. Die Geschichte des modernen Europas kann mit den Namen von drei Titaten umschrieben werden: Napoleon, Bismarck und Lenin. Von diesen drei Männern eines höchsten politischen Genius hat Bismarck wohl am wenigsten Unheil gestiftet“.
Kürzlich deutete der amerikanische Historiker Jonathan Steinberg in seiner Bismarck-Biographie die Reichsgründung als „the greatest diplomatic and political achivement by any leader in the last two centuries“.
Henry Kissinger, der dem Politiker Bismarck an verschiedenen Stellen seinen Respekt gezollt hatte, schrieb am 30.3.2011 in der New York Times unter der Überschrift „Bismarck, Master-Statesman“:
“Bismarck was never seen in public without a uniform, yet he had never really served in the military and was generally viewed with suspicion by the military leaders for what the saw as his excessive moderation. The man of ‘blood and iron’ wrote prose of extraordinary directness and lucidity, comparable in distinctiveness to Churchill’s use of the English language. The embodiment of realpolitik turned power into an instrument of self-restraint by the agility of diplomacy”.
In Abwägung der Leistungen und Fehler Bismarcks scheint es mir nicht gerechtfertigt, ein Bismarck-Denkmal zu schleifen: eher ist das Ausdruck einer Arroganz der Gegenwart, ein ungenügendes Einfühlen in die Vergangenheit.


Stefan Winckler
Ist Bismarck immer noch Kanzler?

Der deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten, Klaus Scharioth, ließ erforschen, was US-Amerikaner über Deutschland und die Deutschen wissen. 60 Prozent wussten nicht, wer z.Zt. deutscher Bundeskanzler ist. Dass es sich dabei um Angela Merkel handelt, war 26 Prozent der Befragen bekannt, während fünf Prozent Gerhard Schröder sowie jeweils  vier Prozent Helmut Kohl und Helmut Schmidt für den gegenwärtigen deutschen Regierungschef hielten. Ein Prozent gab indes an, Otto von Bismarck sei der jetzige Bundeskanzler.
Quelle: Rhein-Zeitung, 22.5.2009  


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