Stefan Winckler
Historiker und Buchautor


© Stefan Winckler


Die Basilika Minor zu Kiedrich im Rheingau


Von Dichtern gerühmt, von Weinkennern geschätzt, ist der Rheingau mit seinen Burgen, Schlössern und Fachwerkhäusern so etwas wie ein Stück „altes Deutschland“ im besten, romantischen Sinne. Fürst Metternich konnte von seinem Schloss in Johannisberg den Besuchern einen herrlichen Blick über die Weinberge auf den Rhein  bieten, Heinrich Heine mochte sich von jenem Ort gar nicht mehr trennen, und auch Goethes Wanderungen in der Gegend zwischen Wiesbaden und Rüdesheim vor mehr als 200 Jahren sind verbürgt.

Das Dorf Kiedrich oberhalb von Eltville in Hessen gelegen, ist nicht nur wegen des nahe gelegenen ehemaligen Zisterzienserklosters Eberbach bemerkenswert. Die Pfarrkirche St. Valentinus und Dionysius, 2010 von Papst Benedikt XVI. In den Rang einer Basilica Minor erhoben, kann auf den ersten Blick der Gotik zugerechnet werden. Was wir heute dort sehen, baut auf einer älteren frühmittelalterlichen Kirche auf. Aus dem 14. Jahrhundert datieren die Seitenschiffe und der Turm, während das Langhaus und der Chor aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts datieren. Überhaupt wurde seinerzeit, in der Spätgotik unter kurfürstlich-mainzischer Herrschaft, die Kirchen in allen Rheingaudörfern stark verändert und erweitert.

Die Kiedricher Pfarrkirche glänzt gleich mehrfach mit Eigenheiten aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert. St. Valentinus und Dionysius verfügt, selten genug, über einen auffallenden Letter. Damit ist die mit Durchgängen gestaltete Trennwand zwischen Gemeinderaum und Chor gemeint. Der Letter wurde nach 1682 abgebaut und im Zuge der Restaurierung 1864 anhand vorhandener Reste wieder erreichtet (vgl. Wels, a.a.O., S. 58).

Im 19. Jahrhundert war es der Kunstkenner John Sutton, der die Kirche von barocken Elementen befreite und sie im Zuge einer Restaurierung wieder auf ihren  gotischen Kern zurückführte. Die Liebe zu dem idyllischen Dorf in seiner reizvollen Umgebung bewog ihn, einen nicht nur wohlhabenden, sondern auch außerordentlich wohltätigen englischen Adligen, sich in Kiedrich niederzulassen und sich auf eigene Kosten der Baumaßnahmen zu widmen.

Im gleichen Gotteshaus befindet sich die älteste noch bespielbare Orgel Deutschlands; sie ist zugleich eine der ältesten bespielbaren Orgeln der Welt. Ein unbekannter Baumeister schuf sie zwischen 1500 und 1520. Ungefähr 80 Prozent der 960 Orgelpfeifen sind noch original. Nach vielen Jahren, in denen sie nicht mehr benutzt werden konnte, sorgte Sutton im Zuge seiner Kirchenrenovierung auch für eine Wiederherstellung der Orgel.

Das Gestühl ist aus jener Zeit noch vollständig erhalten, was alles andere als gewöhnlich ist. Prächtige Schnitzereien zur Gangseite hin, farblich gestaltet, fallen auf. Dabei handelt es sich um figürliche Darstellungen (Weinreben), aber auch um Textbänder, so insbesondere eine „Gerechtigkeitsspirale“, die soziale Ungerechtigkeit und die Abwendung von Gott als Menetekel für den Untergang der Menschen benennt.

Die Glocken mussten weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen werden. Sie stammen aus den Jahren 1389 (Gemeindeglocke) und 1513 (Große Glocke und Messglocke) sowie 1868 (Drei-Uhr-Glocke, umgegossen). Das Geläute zum Anhören: Kiedrich St. Valentinus Plenum - YouTube

Älter ist die Kiedricher Madonna, eine thronende Lindenholz-Muttergottes mit dem Jesuskind, entstanden um 1330. Zuletzt wurde St. Valentinus und Dionysius 2013/14 über einen Zeitraum von anderthalb Jahren renoviert.  

Abgesehen von den hessischen Schulferien und dem ersten Sonntag eines jeden Monats wird die Messfeier musikalisch von den Kiedricher Chorbuben gestaltet. Als weltweit einzige Gemeinde singt Kiedrich den Gregorianischen Choral in der Sonderform des sog. Germanischen Dialekts in der Fassung von 1333 und benutzt dabei die alte gotische Notenschrift (Hufnagelnoten). Die Melodien sind teilweise über tausend Jahre alt.   


Claudia Wels: Die Pfarrkirche St. Valentinus zu Kiedrich und die spätgotische Landkirchen im Rheingau. Marburg 2003 (Diss.). Vollständiger Text: dr3inter.PDF (uni-marburg.de)

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